Und ich sitze da. Auf der roten Coach, die mit einem dunkelblauen Tuch verdeckt ist. Die Überdecke ich halb herunter gerutscht und entblößt die Farbe, die sich unter ihr versteckt. Ich sitze auch eigentlich nicht, sondern liege viel mehr. Ringe nach Luft und meine Wangenknochen beginnen langsam zu schmerzen. Zu viel lachen. Zu viel Freude. Gegenüber, auf der olivgrünen Coach, die ebenso halb eingehüllt ist in eine Decke von der gleichen Farbe, befindet sich meine Mitbewohnerin in einer ähnlichen Position. So verweilen wir ein paar Momente. Links neben mir, an der Wand, hängt die große Weltkarte, von meiner anderen Mitbewohnerin, auf der es so aussieht, als wäre Russland fast dreimal so groß, wie ganz Europa zusammen gesehen. Australien ist in der Mitte, in der unteren Hälfte. So gern würd ich überall Pinnnadeln hineinstecken, als Zeichen, dass ich dort schon war. Ein paar könnte ich jetzt schon vergeben. Aber an wie viel erinnert man sich denn noch von Reisen, die in der frühen Kindheit begangen worden sind?
An der Karte selbst ist eine Uhr angebracht. Vorher war es noch halb acht. Oder vielleicht auch erst sieben. So genau hab ich auch wieder nicht geschaut. Den Tag vorher hab ich an der Uni verbracht, mich mit Menschen getroffen, war Rad fahren und habe gelesen, gekocht und jede Menge Zeug angestellt.
Ich schaue erneut rauf. Der große Zeiger zeigt auf die sieben. Der kleine beinahe auf die zwölf. Wo ist der Abend hin?
Und was war heute?
Was gestern?
Ich wache auf, wenn ich es denn schaffe, vor zehn aus dem Bett zu kriechen, und die Straßen sind noch beleuchtet, künstlich. Der Himmel bleibt grau. Erst langsam trauen sich die ersten hellen Flecken heraus. Aber das dauert. Man schließt nur kurz die Augen und es ist Tag. Und beim nächsten Zwinkern hat die Nacht begonnen. Das geht so schnell. Wenn man nicht aufpasst, läuft die Zeit davon. Mein Körper versteht die Welt auch nicht mehr. Am besten um halb acht schlafen gehen und bis um halb elf durchschlafen. Ich brauch die Sonne und in der Nacht kann ich nicht auf sein. Meint er. Aber so ist es nun mal nicht. Der Tag beginnt doch trotzdem um dieselbe Uhrzeit, wie noch vor zwei Wochen auch. Ich hab doch trotzdem so viel zum Erleben.
Ich zieh mich an. Setz mich vor den Schminktisch, male mir ein Gesicht auf. Schaue auf meinen Handykalender, der mich unglaublich nervt. Mache war für die Uni. Spiele Harfe. Habe Bandprobe. Gehe spazieren und schaukeln. Treffe mich zum Pizzabacken. Schlage eine Zeitschrift auf. Klimpere auf den Tasten der Schreibmaschine herum. Begebe mich auf die Uni. Helfe meiner Nachhilfeschülerin beim Zusammenfassen von Texten über Persönlichkeitstypen von Kindern. Sitze mit meinen Lieben da und tratsche. Schaue auf mein Handy. Koche. Esse. Fülle meine Trinkflasche nach. Und das alles an einem Tag. Trotzdem kommt alles zu kurz. Ich hab das Gefühl, für nichts Zeit zu haben. So Vieles möchte ich doch noch tun. Ins Museum gehen, viel mehr malen und zeichnen, mir Musik anhören, in Ruhe, auf dem Boden sitzen und nachdenken, mehr Zeit mit mehr Lieblingsmenschen verbringen, Poetry Slams im Internet anhören. Texte schreiben. Viel länger Schlagzeug spielen. Viel mehr Sport machen. Viel mehr mit Konsum beschäftigen. Viel mehr lesen. Ich möchte The Postal Service hören und einfach nur nichts tun, mich von den Klängen auffangen und mitreißen lassen. Ich möchte telefonieren und meinen Neffen besuchen. Ich möchte den Sonnenuntergang fotografieren. Aber Schlaf muss auch irgendwann mal sein. Der kommt doch eh am Kürzesten von allen.
Jetzt setzen wir uns wieder auf. Nächste Lachwelle. Das muss kurz überbrückt werden. Die Geschichte, die sie mir vorhin erzählt hat, war einfach zu komisch. Und jetzt reden wir wieder. Über irgendwas, was gestern war. Meine Mitbewohnerin ist ganz verwirrt und kennt sich nicht aus. Obwohl ich ihr doch erst vor einigen Stunden die Haare geschnitten habe. War das wirklich erst gestern? Kommt mir schon so lange her vor.
Ja.
Mir auch.
Es ist dauernd dunkel draußen. Und die Tage werden kürzer. Die Taten aber nicht. So viel ist zu tun, überall gibt es ein kulturelles Angebot, das ausgekostet gehört. Und Techno-Partys und Bücher. Und lustige Dinge, die man mit dem Handy anstellen kann, wie Selfies auf Instagram hochladen und mit tollen Menschen kommunizieren. Und schon ist wieder eine Stunde um. Der Tag ist voll gefüllt mit Momenten, die es eigentlich alle Wert sind, behalten zu werden, konserviert. Der Tag ist voll von verschiedenen Schauplätzen. Der Tag ist voll von zu wenig Zeit und zu viel zu tun. Ich verliere den Überblick; weiß schon gar nicht mehr, wann ich diese Dinge gesagt, was ich vorgestern angezogen habe, oder wie lange die letzte Begegnung jetzt wirklich schon her ist. Mein Zeitgefühl war immer schon nicht das Beste. Aber sich in ganzen Tagen zu vertun ist mir im Waldviertel selten passiert.
Und obwohl so viel gemacht wird, am Abend möchte ich immer noch mehr tun. Einen Blogeintrag verfassen. Hula-Hoop üben. Lesen. Das Abschminken wird hinausgezögert. Das Zähneputzen auch. Und schon ist es 22:53 Uhr und ich sitze immer noch im Zimmer, die Lichterkette ist angeschalten, draußen fährt ein Moped vorbei. Heute habe ich endlich mal wieder aufgeräumt, gestaubsaugt, die Laken gewechselt. Heute habe ich mit einer meiner Lieblingsfreundinnnen ganz viel getratscht und Kaffee getrunken. Habe ein Beispiel für Physik gerechnet. Heute war ich schon im Cafe Jellinek und hab mir meinen Adventkalender von der Mutter abgeholt. Heute hab ich Bauchmuskelübungen gemacht, mich bei einer Seite beworben. Lange geschlafen. Bis um zehn. Und bis um halb elf im Bett gelegen. Ich war auch schon draußen. Und duschen. Und hab noch so viel vor. War das wirklich erst heute, dass ich im Wohnzimmer gesessen habe und über meine Sojamilch mit Grüntee drinnen geredet habe? Dass ich F. von meiner neuesten Band-Entdeckung erzählt habe? Und wie lange ist es schon her, dass ich das Prüfungsergebnis erfahren habe? War das auch erst gestern? Komisch. Die Tage vergehen so schnell irgendwo. Und irgendwo auch gar nicht. Irgendwo passiert so viel. Wien bietet an jeder Ecke eine neue Überraschung. Ladet zum Träumen ein. Verleitet zu Taten.
Zeit ist doch relativ. Und bewegte Uhren laufen langsamer. Deswegen vielleicht. Weil so viel passiert. Deswegen geht die Zeit nicht so schnell verloren. Relativitätstheorie. Noch was vom Schulwissen übrig. Und wenn mir jetzt die Augen zufallen, weiß ich, dass es wohl mehr Sinn machen würde, mich jetzt abschminken zu gehen und unter die Decken zu schlüpfen. Morgen früher aufstehen und mehr tun.
Aber nein! Ich würde doch so gerne noch ein bisschen schreiben mit C. Noch ein bisschen Musik hören. Und auch noch ein bisschen rechnen. Mich auf die Universität vorbereiten. Mir einen Plan für morgen zurecht legen. Listen schreiben. Eine Seite meines Inspirationsbuches gestalten. Und ganz viel nachdenken, reflektieren. Runterkommen. Und nicht in Melancholie versinken. Das ist nämlich doch sehr gefährlich, so abends.
Und morgen werd ich zurück denken.
Was ist jetzt alles passiert?
Was das wirklich alles heute?
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