Stärke.
In letzter Zeit denke ich sehr viel an dieses Wort, diese Eigenschaft. Was macht dich aus? Wo bist du? Und vor allem, wieso fehlst du so Vielen, bist bei den meisten nicht anwesend?
Die Antworten, die ich mir selbst auf diese in den Kopfraum hingestellten Fragen gebe, variieren schrecklich. Meine Definitionen von Stärke können sich von dem einen Moment auf den anderen um hundertdreiundsiebzig Grad wandeln und sich ins Gegenteil umkehren. Das ist verfassungsabhängig. Manchmal komme ich mir selbst sogar unheimlich stark vor. Starke Persönlichkeit. Starkes Auftreten. Und dann auf einmal ein Blick, eine unacunachtsame Geste und meine eben dagewesene Kraft scheint abzubröckeln und ich bin einfach nicht imstande, die Brösel einzusammeln. Dann gibt es wiederum Zeiten, wo ich mich zurückdenke. Wie stark ich nicht gewesen bin, dass ich bei so vielen Versuchungen stand gehalten habe und mich nicht verlocken habe lassen, dass ich es geschafft habe, so viel Disziplin aufzubringen, von dem Leckerbissen, der sich doch so unmittelbar vor meiner Nase befindet, nicht mehr als einmal abzubeißen. Alles unter Kontrolle - ganz stark. Und dann fühle ich mich schlecht. Ich fühle mich schlecht, weil ich das Gefühl nicht loswerde, schwach zu sein, meine Stärke verloren zu haben. Ich kann nunmal bei diesen Dinkelflakes bloß eine Schüssel essen, und wenn ich noch dazu eine so gutschmeckende selbstgemachte Nuss-Reis-Nelken-supergeil-Milch im Kühlschrank stehen hab, kann mich so gut wie nichts stoppen. Ich verliere irgendwo die Kontrolle. Ich esse über den Hunger. Ich esse. Das hat sich in mein Gehirn eingebrannt - essen gleicht Schwäche. Wäre ich nur ein wenig stärker, könnte ich auf die unnötigen Nährstoffe verzichten. Wäre ich nur ein wenig stärker, könnte ich das Abendessen weglassen. Wäre ich nur ein wenig stärker, ich könnte...
Ja, was könnte ich?
Ich könnte krank sein und schwach und zerbrechlich. Ich könnte lasch sein und ohne Freude und unglaublich gestresst.
Ich könnte nicht unabhängig sein. Zur Unabhängigkeit gehört das dazu. Es gehört dazu, sich zu versorgen. Und ohne Essen geht das nicht.
Also denke ich mir dann, dass das eigentlich ein riesengroßer Schwachsinn ist, was sich da in meine grauen Zellen eingeschlichen hat. Dass diese Denkweise, die mich in so gewissen Situationen überkommt, unbegründet und einfach falsch ist.
Stark sein bedeutet, für das einzustehen, an was man glaubt. Stark sein heißt, auch einmal etwas zu tun, was einer nicht unbedingt gefällt, weil darauf ein mehrheitlicher Nutzen gezogen werden kann. Stark sein heißt, die Zähne zusammen zu beißen. Stark sein heißt aber auch, zu sagen, dass etwas zu viel ist oder wird, dass man mit der Gegebenheit einfach nicht klar kommt. Stark sein ist Gefühle äußern. Zu dem, was man empfindet, zu stehen. Stark sein ist viel mehr als eine bloße Verweigerung. Stark sein ist Revolution. Aber nicht gegen sich selbst. Denn stark sein bedeutet einfach, es zu schaffen, dass es einer gut geht. Dass man mit allem versorgt wird. Ich bin stark, wenn ich meinem Körper den notwendigen Treibstoff gebe und diesen ihm nicht verweigere, weil sich irgendwelche Emotionen eingeschlichen haben, weil ich einen Grant auf ihn habe.
Wie kann man stark sein, wenn eigentlich keine Energie da ist? Da ist ein logischer Fehler drinnen. Logik habe ich doch in Philosophie-Unterricht durchgenommen. Caesar ist ein Mensch. Alle Menschen haben irgendwas. Caesar hat irgendwas. Ganz einfach.
Es gibt so viele starke Menschen, so tolle starke Frauen*. Ich finde ja, dass Virginia Woolf dazu gehört, und Laverne Cox, und Malala Yousafzai, und meine Schwester, und Emma Goldmann, und Marie Curie. Sie waren oder sind stark. Auf ihre eigene Weise. Und manchmal war das in gewisser Hinsicht selbstzerstörerisch - Marie Curie probierte zum Beispiel ihre Experimente mit den Strahlen an sich selbst aus. Aber das hat doch einen Sinn gehabt. Sie haben es durchgezogen und etwas sinnvolles gemacht, machen etwas sinnvolles. Nicht essen hat leider nichts mit Sinn zu tun, vor allem, wenn man in der privilegierten Lage ist, sich gutes Essen, dass ethisch vertretbar angebaut, gemacht worden ist, leisten zu können. Es ist eher respektlos. Nicht sinnvoll. Nicht stark.
Stark ist, trotzdem aufzustehen, obwohl du nicht mehr möchtest und es immer wieder aufs Neue versuchst. Stark ist, von sich selbst zu sagen, man hat das gut gemacht, man kann das, man schaut schön aus. Stark ist zur Meinung zu stehen und diese auch zu leben. Stark ist, an andere zu denken. Stark ist, sich selbst aber nicht zu vergessen.
Stärke müssen wir noch lernen. Konsequent.
Ich möchte einmal, dass von mir gesagt werden kann, ich sei stark. Momentan bin ich mir da nicht sicher. Momentan ist noch so vieles so schwach.
Aber dann sehe ich, wie die Sonnenblumen jeden Morgen die Blätter auffalten und der Sonne nachschauen. Ist es ein guter Tag, ist es hell, dann machen sie das. Immer. Bis sie verblühen. Bis dahin lassen sie sich auch nicht von Regen entmutigen. Sonnenblumen sind standhaft. Nehmen wir uns doch ein Beispiel an ihnen!
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