Samstag, 12. Juli 2014

Häufigkeit oder: Warum es so schlimm ist, wenn man übersieht

Mein Zimmer in der großen Hauptstadt ist jetzt provisorisch eingerichtet. Ich habe eine Matratze am Boden liegen, die genau für eine Person reicht, habe mir aus Gaffaband und Kartonkisten ein Regal gebaut oder eher gebastelt, das den Anschein macht, als würde es jeden Moment vorn über kippen und irgendwie ist mein Alltag in Wien schon zur Selbstverständlichkeit geworden. Ich koche, wische Platten ab und spiele Harfe. Ich verbringe so viel Zeit wie möglich mit den beiden Liebsten, die zufällig dieselbe Hausnummer haben wie ich, habe vor wenigen Stunden das Internet installiert und fahre mit dem Rad über die dafür vorgesehenen Wege, während ich mich über die Fußgänger*innen ärgere, die zwischen ihrem und dem Radfahrweg nicht unterscheiden können.
Irgendwie bin ich angekommen.

Und irgendwie wird mir von Tag zu Tag immer bewusster, wie es mit meinen Mitmenschen aussieht. Und vor allem, was für einen Wert die Gesellschaft auf psychische Schwierigkeiten und Krankheiten legt. Es ist schrecklich und wird mir immer klarer, wie unglaublich viele, teilweise auch in meiner unmittelbaren Nähe, durch solche Probleme gehen müssen, ohne Hilfe, ohne richtige Behandlung, ohne anerkannt zu werden.

Wenn man Schwierigkeiten mit der Lunge hat, ist das ganz in Ordnung - muss man halt alle paar Wochen zum Doktor Lorentz gehen und sich immer wieder neue Nasensprays und Inhalatoren besorgen. Nicht weiter schlimm, weil behandelbar. Asthma zum Beispiel ist allerdings in vielen Fällen nicht heilbar und eigentlich einfach da. Ist man aber von einer Borderlineerkrankung, die plötzlich auftritt und irgendwie nicht wegzugehen scheint, betroffen, muss es erstens einen Grund, wie akzeptiert dieser dann wird, sei dahingestellt, für diese Situation geben und noch wichtiger, hören die Selbstverletzungen und die weiters dazugehörenden Verhaltenszüge auf, ist man geheilt. Punkt.
Ich hab Asthma mit irgendeinem Bronchitis-Zusatz, immer schon. Früher war es aber wesentlich schlimmer, da hatte ich einfach jeden Winter Bronchitis und habe gebellt, wie ein Rottweiler, der in einen Käfig eingesperrt von zwei kleinen Kindern geärgert wird. Das alles hat jetzt sehr nachgelassen. Ich bin wohl immer noch recht anfällig und vor allem im Winter werde ich ganz schnell krank, huste mir meine Lunge aus dem Leib, aber die richtigen Bronchitissymptome haben deutlich nachgelassen. Trotzdem ist sie da. Ganz geheilt bin ich halt einfach nicht, das ist auch dem oben genannten Doktor Lorentz bewusst und auch vielen anderen.
Außerdem nimmt die Zahl der Menschen, die mit Laktose- oder Glutenunverträglichkeiten leben müssen eindeutig zu.

So, wo hat das jetzt Relevanz?
Ich möchte einfach ein Beispiel geben, wie beinahe angesehen körperliche Krankheiten, Allergien und Unverträglichkeit sind. Die werden hingenommen, akzeptiert und man versucht, so viel dagegen zu tun, wie nur möglich.
Und jetzt kommen psychische oder psychosomatische Erkrankungen ins Spiel. Was leider von viel zu vielen einfach vergessen wird, ist, dass, wie es meine Mitbewohnerin letztens so unglaublich treffend formuliert hat, psychische Probleme einfach eine Krankheit des Kopfes, des Gehirnes ist. Und unser Gehirn ist doch genauso ein Teil von uns und unseren Körpern. Wenn die Gedankengänge weitergehen, obwohl äußerlich alles in Ordnung zu sein scheint, dann sind diese Störungen einfach noch nicht überwunden.
Ich hab jetzt wieder Normalgewicht. Bin ich deswegen von dem ganzen Essstörungs-bla geheilt?

Aber viel wichtiger, solche Probleme sind einfach genauso häufig, wie irgendeine Bienenstichallergie. Sie sind schwierig auf den ersten Blick zu erkennen und werden meist unterdrückt oder übergangen. Es geht einem Mädchen zwar schlecht, aber das ist egal, sie ist ja nach Definition gesund. Ein anderer Mensch denkt darüber nach, sich selbst zu verletzen, tut es aber nicht, keine Narben sind sichtbar, es ist also alles okay mit diesem.
Es gibt so wenig Leute, die rundum glücklich sind, die keine Schwierigkeiten haben. Aber wer hilft diesen? Es beginnt ja einmal wieder im frühen Alter. Niemand ist aufgeklärt. Niemand wird aufgeklärt. Niemand klärt auf. In der Schule lernen wir, dass Anorexie dann auftritt, wenn der Bodymaßindex unter 17,5 fällt. Das heißt aber, dass so viele, die von dieser Krankheit - und ja, es handelt sich hier im eine Krankheit, nicht um eine Phase, nicht um Kleinigkeiten - betroffen sind, laut meinem Biologielehrer nicht mehr in diese Definition fallen. Und auch, wenn ein Mensch Übergewicht hatte und in kürzester Zeit in den sogenannten Normalgewichtbereich kommt, dass dieser Mensch dann nicht magersüchtig sein kann. Außerdem haben wir über dieses Thema einfach erst in der sechsten Klasse gesprochen, wenn man dazu überhaupt sprechen sagen kann. Die Realität ist aber eine ganz andere. Wenn wir in einer Gesellschaft leben, in der jedes zweite elfjährige Mädchen einfach schon eine Diät gemacht hat, dann ist das Beschäftigen mit Essstörungen erst mit sechzehn einfach zu spät. Wenn ich auf meine nächste Therapiestunde warte, begegnen mir immer mehr kleine Mädchen, die die Statur einer Achtjährigen haben, wahrscheinlich selbst nicht älter als dreizehn sind, wenn überhaupt. Wer wird heutzutage schon über die möglichen Nebenwirkungen, die Lebensgefahr und Mittel, wie man helfen kann, unterrichtet?

Ich bleibe dabei, es sind Krankheiten, die schrecklich, schrecklich viele liebe Menschen betreffen, und unbedingten Behandlungsbedarf gebrauchen.

Letztens habe ich mit einer Freundin telefoniert, die mich gefragt hat, ob es nicht sinnvoll wäre, eine Therapie zu machen. Ihr geht es einfach nicht mehr so gut und sie hat genau gar kein Selbstbewusstsein mehr. Sie ist sich dessen bewusst und möchte daran etwas ändern. Ich schreibe eine andere Freundin an, ob sie denn nicht mal was unternehmen möchte und bekomme als Antwort, dass sie sich in einer Klinik befindet. Ich rede mit jemandem, der hoffentlich nicht in eine Essstörung stürzt, aber ganz den Anschein macht.
Warum ist das so schlimm? Abgesehen von der Problematik der einzelnen Krankheiten, ich meine jetzt das bloße Reden darüber. Wieso kann man nicht einfach zugeben, man habe gewisse Probleme mit einer gewissen Thematik? Wieso muss soetwas mehr oder weniger im Geheimen vor sich gehen?
Das macht mich wütend. Das macht mich traurig. Das macht mich irgendwie hilflos. Was kann ich tun? Als Einzelperson.

Ich versuche mit ganz offenen Augen herumzugehen und mich zu sensibilisieren. Ich rede auch gern einmal Schwestern von Freundinnen direkt darauf an. Aber reicht das? Mir tut es so leid, dass überhaupt jemand davon betroffen sein muss und dann sind es gleich so unglaublich viele...
Was kann ich tun?
Was können wir tun?

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