Montag, 3. November 2014

Und auf einmal bedeutet das 19. Element so viel

Schauplatz: Uni, Hörsaal 04, Physik-Übungen, Mitte rechts. A. und L. können einen Lachflash nicht unterdrücken. Ich steige mit ein. As Kopf wird ganz rot und er unterdrückt das Prusten. Kopf auf den Tisch. L. versteckt ihr Gesicht und hustet. Ich versuche, nicht allzu sehr aufzufallen. Der Hörsaal ist sehr klein. Die Tutorin muss es eigentlich merken. Ist das der Fall, so zeigt sie es nicht. Vielleicht wirkt sie ein wenig genervter. Auch verständlich. Es ist Montag-Nachmittag und sie muss sich mit einem Haufen Erstsemestrigen herumschlagen, die schon den ganzen Tag auf der Uni zugebracht und eigentlich keinen Kopf mehr für irgendwelche Kräfteübersetzungen haben. Eine Pause wäre vielleicht angebracht. Die Vorlesungen sind ganz eng aneinander gereiht und das Auf-Die-Toilette-Gehen geht sich gerade noch so aus, dass man nur die ersten drei Worte verpasst. So muss sich die Pause eben geschaffen werden. Trotzdem möchte niemand etwas verpassen. Ist doch wichtig. Physik versteht doch momentan sowieso niemand. Die Köpfe sind voll von Chemie und LBT. Vorletzte Woche erster Anlauf für die Chemieprüfung, letzte der zweite. Donnerstag STEOP in LBT. Da muss gelacht werden.

Was genau der Auslöser für diese Emotionsgeladenheit war, ist mir entfallen. Wahrscheinlich nur eine Kleinigkeit. Ein ganz schwacher Funke, der ausreichend war, um die Überdrehtheit, die doch manchmal einsetzt, wenn man eigentlich entweder übernachtig, müde oder überfordert sein sollte, in Gang zu setzen. Der Funke entsteht. Er entfacht. Und dann brennt es. Löschen wäre vielleicht angesagt. Wobei. Kommt auf die Perspektive an. Auf das Inertialsystem, von dem man das Ganze betrachtet. Für Außenstehende mag es versuchenswert sein, die Flammen einzudämmen. Befindet man sich aber in dem geschlossenen System, dann kann man erstens gar nichts dagegen unternehmen, und außerdem handelt es sich hierbei um einen günstigen Zustand.

A.s Gesicht nimmt langsam wieder normale Farbe an. Er beschwert sich über Schmerzen in der Mundgegend. "Und so gehts mir jeden Tag!", entgegne ich lachend. Ja, genau. Lachend. Das mach ich nämlich gerade immer.
Und dafür gibt es viele Gründe. Wie immer. Es gibt selten Dinge, die auf nur einen Auslöser zurückzuführen sind. Meistens besteht dieser aus einem Geflecht. Ein Konstrukt von vielen Zufällen und Maschen. Verbunden mit Spontaneität und Wasserstoffbrückenbindungen.

Mein Handy klingelt. Ich weiß jetzt schon, von wem die Nachricht stammen wird. Beziehungsweise, bei welchem Whatsapp-Chat ich nachschauen muss. Und das Gefühl dabei ist ein anderes. Whatsapp-Chats gibt es viele. Und auch meine alte Klasse hatte einen, der an und für sich immer noch aktiv ist, auf meinem Telefon allerdings auf stumm gestellt.

"Kalium-Gruppe"

Hier wird sich ausgetauscht.
Habt ihr schon eure Labormäntel? Wo findet jetzt nochmal der Test statt? Wie geht das Beispiel noch gleich? Achja! Montag ist Biermontag, da gehen wir doch alle hin, oder? Smileys, oder besser beschrieben, Emojis häufen sich und ein Affe hält sich die Augen zu. Immer wieder klinke ich mich ein. Wie war das noch gleich? Den kompletten Überblick über dieses System Universität habe ich mir immer noch nicht verschafft. Aber dafür gibt es ja Vernetzungen. Dafür gibt es ja Kalium. Das neunzehnte Element in meinem Periodensystem, das ganz groß an meiner Wand, links unter den auf Nägel gehängten Kameras prankt. Blau ist das Kästchen mit dem großen "K" eingefärbt. Metall.
Und eigentlich noch so viel mehr.

Das mag sich vielleicht in gewisser Weise komisch anhören. Oder blöd. Oder beides. Und so ganz auszudrücken hab ich es mich auch noch nicht getraut. Aber hier kann ich die Zeilen doch damit füllen. Ich kann schreiben, dass ich gar nicht genau weiß, wie das passiert ist. Wie viel Glück ich doch gehabt habe. Nicht nur mit meinem Studium, das mir wunderbar gefällt, sondern auch mit der Wahl der Universität, die Erstsemestrigen-Tutorien anbietet und so kleine Gruppen bildet. Ich kenne jetzt schon viele meiner Mitstudierenden. Grüße nach Lust und Laune und spreche alle an. Und am Anfang des Tages weiß ich, dass ich immer einen Platz neben A., oder L., oder L., oder M., oder S. haben werde. Das hat sich schon so eingependelt. Und da das Audimax sowieso nie ganz voll ist, geht sich das auch immer schön aus, wenn ich - wie eigentlich immer - auch ein paar Minuten zu spät in den Hörsaal platze.
Es bringt mir auch insofern so viel, dass ich einfach noch mal um ein riesen Stück lieber in die Alte WU, den neuen BOKU Standort, hineinspaziere und davor mein Rad absperre. Meine Tasche auch unbeaufsichtigt auf den Gang stelle, während ich die Toiletten aufsuche und meine Wasserflasche im Waschbecken auffülle. Oder mir einen Kaffee von der Kaffeemaschine, die zufällig faire Kaffeebohnen verwendet, kaufe. Ich freue mich nicht nur auf den Stoff, auf die Materie, die ich heute lernen darf, die mir hilft, die Welt, meine Welt, besser verstehen zu können. Ich freue mich auch auf die Augen von L. und die Gespräche mit M. und die Umarmung von A. Ich freue mich auf so viele Menschen, die ich gerne sehe. Die ich gerne jeden Tag sehe. Und ich weiß ja nicht, aber vielleicht sehen sie mich ja auch gerne. Vielleicht passt das gerade.

Ich darf mir aber nicht zu viel erwarten!
Das mach ich immer gerne. Ich interpretiere hinein und male mir Situationen aus, die dann aber nie so eintreffen werden.
Letztens hat eine meiner liebsten Freundinnen auch gesagt, dass ich nicht vergessen sollte, dass das meine Studienfreunde sind. Mit ihnen studiere ich. Deswegen sehe ich sie sooft. Gut, mit M. und L. mache ich auch Zumba und mit einer anderen L. hab ich schon durch das ganze Set von Austrian Apparel getanzt. Trotzdem.

Genau! Trotzdem. Sollen es meine Studienfreundinnen sein. Das macht ja nichts. Ist doch gut so. Da bin ich auch die eine Lili. Daheim bin ich ja wieder anders und wenn sich dann alles überlappt, komme ich mit meinen Persönlichkeiten vielleicht auch gar nicht mehr so ganz zurecht. Wer bin ich wann? Wie bin ich wann? In der Augasse bin ich auf jeden Fall begeistert. Und quirlig und hochmotiviert.
Das hat ja auch etwas mit meinem Umfeld zu tun. Wir sind ja alle mehr oder weniger freiwillig hier. Wir wollen ja alle verstehen, was hinter der Glucose-Oxidase und den Van-der-Waals-Kräften steckt. Das verbindet. Man hat gleich einmal eine Basis. Und dann hat man Lächeln und nette Gespräche und lernt sich immer weiter besser kennen und genießt die Zeit.

Also ich genieße es.

Ich genieße es so sehr, dass ich jeden Tag wo hin gehen kann, wo ich gerne hingehe. Dass ich jeden Tag Leute sehen kann, die ich gerne sehe. Dass ich mir nicht dauernd denken muss, oh, was sagen die wohl zu meiner bunten Strumpfhose. Dass ich nicht das Gefühl habe, so überhaupt nicht dazu zu gehören.

Ich genieße das so sehr.

Ich bin nicht nur verliebt in meine Studienrichtung, ich bin auch verliebt in meine Mitstudierenden. Mit denen ich mitten in der Physik-Übungen-Vorlesung rot anlaufen und über irgendeinen ganz blöden Witz lachen kann. Und vielleicht ist es auch gut, dass sie nicht so viel wissen über mich. Dass ich nicht so viel über sie weiß. Ihre Hintergründe. Meine Vergangenheit. Die Persönlichkeiten stückeln sich gerade allmählich erst zusammen und man tastet sich mit tieferschürfenderen Fragen erst vor. Überschreite ich damit eh keine Grenze?
Und ich sehe sie jeden Tag. Aber das noch nicht so lange. Noch nicht acht Jahre lang. Da kann ich ein paar Kapiteln ausklammern. Muss sie niemandem auf die Nase binden und kann abwarten. Ich kann überlegen, wie es weiter gehen sollen. Ein bisschen selbst formen. Ich kann in gewisser Weise selbst mitbestimmen, wie ich gesehen werde. Mich neu erfinden und erfinden lassen. Ich kann den Alltag genießen und weiß, dass ich morgen wieder neben A. in Mathe sitzen werde. Diesmal aber der andere A., die beiden heißen nur zufällig gleich. Und dann werde ich nach Hause radln und die Kette fest machen.

Ja. So sieht das nämlich aus.

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