Dienstag, 23. Dezember 2014

Stadt-Land Gefälle

Ich sitze jetzt wieder in der Küche. Im Dorf. Im Waldviertel. Über hundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Höre FM4 und bin gerade sehr, sehr froh, dem Großstadtchaos entronnen und wieder mitten im Kleinfamilienwahnsinn zu sein. Ich gehe spazieren, über richtige Erde, neben entstandenen Bächen, durch das Laub der Bäume fallen ein paar Sonnenstrahlen. Die Tage sind so kurz, dass man schon um fünf Uhr am Nachmittag müde wird, weil die Sonne einfach nicht mehr da ist, um Energie zu spenden. Ich mache mir Gedanken. Gedanken über meinen jetzigen, über meinen alten Alltag. Gedanken für die Stadt. Gedanken übers Land.




Ich lebe in der Stadt. Bin am Land zu Hause. Studiere dort. Spaziere da. Und wie könnte ein und dasselbe Land denn unterschiedlicher sein, als bei der Betrachtung vom hintersten Eck Niederösterreichs und Wien? Da gibt es einmal die ganz offensichtlichen Faktoren, die das Gefälle bestimmen. In der Stadt gibt es mehr Menschen auf weniger Raum. Am Land findet sich schwer ein guter, für die Qualifikationen passender Arbeitsplatz. Dort finden wir auch weniger Einkommen. Und mehr Ausländer*innenfeindlichkeit, während prozentuell gesehen in der Stadt mehr aus anderen Ländern kommenden Menschen leben. Wir haben dort ein großen kulturelles Angebot, im Waldviertel wachsen Kartoffeln. Und irgendwie sind sie dort alle weltoffener, wie mir vorkommt.




Die Blumen sind natürlicher. Die Blätter bleiben liegen. Alle grüßen, alle kennen sich. Steht ein Auto vorm einzigen Wettbüro weit und breit weiß jede Person, wer nicht spielsüchtig ist. Man kann die Äpfel von den Bäumen pflücken. Die Kindheit im Wald verbringen. Verlassene Lichtungen entdecken. Waldkreaturen begegnen. Die Zivilisation ist ganz leicht hinter sich gelassen. Abkapselung. Man vereinsamt ganz schnell. Es gibt nur ein Kino, und das ist fünfzig Kilometer weit entfernt. Die Kühe vom Nachbarn wecken dich auf. Schwul ist ein Schimpfwort.

Sonnenuntergänge hier, durchtanzte Nächte dort. Sommerregen gegen kritische Museen. Umgestürzte Bäume gegen geräumte Häuser. Hühner überall gegen eingesperrte Katzen. Ausgedehnte Spaziergänge gegen U-Bahnen. Depressionen gegen Überforderung. Naivität neben unglaublicher Individualität. Derselbe Landeshauptmann gegen Begegnungszonen. Schlechter Handyempfang gegen Omnipräsenz der technischen Welt. Familie hier, Freunde dort. Aufgelassene Eislaufplätze und Sportkurse um 26 Euro im Semester. Und die soziale Selektion trifft dich überall.


Jeden Tag ist eine andere Demonstration. In der Straßenbahn lachen dich viel jüngere Burschen an, oder aus. Möglichkeiten gibt es ohne Ende. Niemand kennt sich. Niemand schaut dich an. Einmal um die Ecke biegen und im Lieblingscafe die Freundinnen treffen. Jeden Abend eine andere Veranstaltung. Der Kaffeekonsum wird angestachelt. Die Ausstellung ist immer noch nicht besucht. So viel Auswahl, so viel zu tun. So viele diverse Menschen treffen aufeinander. So viel kann gelernt werden. Universitäten gibt es beinahe nur hier. Alte Häuser aus Otto Wagners und Adolf Loos' Zeit. Alle besonders schick angezogen. Die Männer gehen Hand in Hand miteinander. Die Rosa Lila Villa ist gleich die Straße entlang. Neue Plätze, neue Kaffeehäuser gibt es zu entdecken. Der Bedarf kann nie gedeckt sein.

Während ich hier Diskussionen über Konsum und Überproduktion führe, versuche ich dort jede Konversation von Themen wie meiner politischen Meinung oder gar meiner Entscheidung, kein Fleisch zu verzehren, abzulenken. Dort stößt man auf Unverständnis, wenn man auf das -in beharrt. Hier ist es oft klar, dass es wichtig ist, dass sogar das Mobiltelefon fair produziert wird. Dort macht es meistens weniger aus, wenn man mal nicht aufgestyled aus dem Haus geht, beim Müllrunterbringen hier traue ich mich das nicht. Es ist alles so entschleunigt und hier bleibe ich oft zu Hause, weil mich die Auswahl überfordert. Man freut sich auf eine bestimmte Veranstaltung dort, hier ist jeden Abend was Neues los. Barfuß durch den Wald laufen gegen veganes Eis um jeder Ecke. Alles muss organisiert, ausgemacht werden, alles ist dreimal fixer, ohne Spontaneität kommst du hier nicht viel weiter. Radio Niederösterreich dröhnt aus jedem Lautsprecher, Helene Fischer lässt zum vierten Mal in den letzten zwei Stunden grüßen, gegen einen wunderbaren CD-Laden neben dem anderen. Essengehen für sechs Euro. Kein Eintritt unter sieben. Während man dort alle kennt, weil es einfach nicht so viele Menschen zu kennen gibt, kennt man hier alle, weil man immer in der Szene unterwegs ist.






Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zum Dorf. Heute liebe ich es sehr. Heute liebe ich es, dass ich einfach so das Haus unabgesperrt verlassen kann, um im Wald Fotos schießen gehen zu können. Heute bin ich begeistert von der kleinen Stadt, in der ich auch in die Schule gegangen bin, vom chinesischen Essen und dem Café ohne Sojamilch. Die Sonne schien so schön und ich war in bester Begleitung. Heute liebte ich die Ruhe, das alleinsein. Auch, wenn in der Stadt mein Zimmer ist, das ich genauso zu machen kann, so richtig alleine und ungestört fühlt man sich nie. Hier macht man so viel, weil es nicht die Möglichkeiten gibt, sich großartig ablenken zu lassen, das Instagram-Feed ist eben doch sehr schnell durchgescrollt.
Am Wochenende war ich gar nicht mehr begeistert von der Hauptstadt. Da kam mir alles zu voll, zu alleine vor. Das war aber ein anderes alleine. Ein unfreiwilliges, komisches. Ein einsam-alleine. Und obwohl es die schönen Zeiten, am Eislaufplatz, im Museum, gegeben hat, im Großen und Ganzen war ich unzufrieden und hab mich selbst nicht mehr ausgehalten. Hab immer dieselben Wege und Fassaden gesehen und musste raus. Mich ein bisschen abschotten.

Vor zwei Wochen liebte ich meine Wohnung. Liebte ich meine Mitmenschen. Das Kaffee vom Sascha gleich beim Margaretenplatz mit dem Noah drin. Die durchgemachten Nächte waren alle egal, die Energie unbegrenzt. Was mach ich morgen? Was mach ich heute noch? Ich will alles auskosten und alles ausprobieren. Die Universität hielt so Vieles bereit für mich, Physik-Vorlesung und Zellbiologie-Labor. Alle lieben Leute an einem Fleck, und dann alle bei mir zu Hause. Nächte durchtanzen. Nicht auf irgendwelche Rauschmittel angewiesen sein, weil ich soundso überdreht bin. Und die Kunst kommt nirgends zu kurz. Man kann nicht nur der eigenen Kreativität freien Lauf lassen was Kleidung und Kombination betrifft, auch ein Schritt aus der Haustür konfrontiert dich mit Jugendstil und Moderne und Gotik und Historismus. Sogar die Plakate, die überall kleben, sind schon Kunstwerke in meinen Augen. Ich habe Harfe gespielt und war nie allein.

Und so schnell kann das umschlagen. So schnell kann man das eine vermissen und das andere hassen. Sooft bin ich in der Früh aufgewacht und das erste, an das ich denken konnte, war, dass ich so glücklich bin. So glücklich, endlich dem Land entronnen zu sein. Und jetzt wache ich in meinem alten Zimmer, das nicht mehr viel von meinem alten Zimmer durchschimmern lässt, außer dem Schild mit "riots not diets" drauf, auf, nachdem ich die letzte dreiviertel Stunde meinen Wecker gekonnt ignorieren konnte, und strahlte der durch das Küchenfenster scheinenden Sonne entgegen. Einmal ist man hier besonders produktiv. Und plötzlich funktioniert etwas nicht mehr. Man ist voll. Voll von immer wechselnden Eindrücken.

Da muss ein Rückzugsort gefunden werden.

Und, so sehr ich auch wirklich, wirklich froh bin, meine Wohnung, mein Bett in Wien stehen zu haben, so froh bin ich auch um die Tatsache, meinen Neffen vom Kindergarten abholen zu können und mit ihm einen Nachmittag lang Nudeln mit Ketchup zu essen, Frosch zu spielen, fliegen zu lernen und Raupen und Lilis mit unglaublich großem Kopf zu zeichnen. Das ist signifikant für mich. Das ist ausschlaggebend. Und das habe ich erst jetzt realisiert. Seit August war ich nicht mehr wirklich im kleinen Dorf in der Nähe von Tschechien gewesen. Es gab immer etwas zu tun. Zu erleben. Zu entdecken. Aber Abkapseln ist oft die beste Lösung. Beleuchtet alles mit einer anderen Lichtintensität. Prioritäten werden umgeschlichtet.






Die Schatten fallen hier anders. Die Menschen lachen viel mehr. Dort gibt es praktisch keine Infrastruktur. Dort ist alles im Überfluss enthalten. Die Notizbuchseiten werden vollgeschrieben. Dort bleibt es liegen. Keine Zeit für das hier. Keine Zeit für das andere dort. Die Töpfe sind hier größer. Hier steht der Zucker am Tisch und die Bücher im Regal.
Und gerade riecht es nach getrockneten Orangenschalen.

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